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Judentum

Schawuot


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"Schawuot" heißt "Wochen". Diese Bezeichnung verdankt das Schawuotfest den sieben Wochen, die man vom *Pessachfest bis zu ihm zählen soll: "Und ihr sollt für euch vom Tage nach diesem Schabbat an ... sieben volle Schabbate zählen ...und sollt eben diesen Tag als heilige Berufung ausrufen" (Lev. 23,15-21). Neben dem Namen Schawuot (Ex. 34,22) bezeichnet die Tora dieses Fest auch als den Tag der Erstlingsfrüchte (Num. 28,26) sowie - im Hinblick auf die um diese Zeit stattfindende Weizenernte - als Erntefest (Ex. 34,22). In der *mündlichen Lehre wird es mit dem Tag der Toraübergabe identifiziert, an dem die zehn Gebote vom Berg Sinai verkündet wurden (Talmud Pessachim 68b). Dies ist die in religiöser Hinsicht grundlegendste Bedeutung dieses Festes und so ist es auch in die jüdischen Gebetbücher eingegangen.
 
 
Die Bedeutung des Festes
 
Fest der Wochen
Die Tatsache, dass Schawuot - als einziger unter den von der Tora vorgeschriebenen Feiertagen - zeitlich nicht durch ein Monatsdatum, sondern durch den siebenwöchigen Abstand von einem ihm vorangehenden "Schabbat" bestimmt wird, verdient Beachtung. Die Überlieferung identifiziert diesen "Schabbat" - nicht ganz unangefochten - mit dem ersten Tag des Pessachfestes (Talmud Menachot 65a-66a).
Sieben Wochen werden von Pessach bis Schawuot gezählt. Dieses sog. Omer-Zählen findet nicht nur im Geiste, sondern im Rahmen des täglichen Abendgebets auch tatsächlich statt. Wer Tage und Wochen zählt, lebt in Erwartung. Der Zeit des Omer-Zählens haftet daher seit der Zeit, da die Juden auf dem Weg aus Ägypten zum Berg Sinai waren, der Stempel des "unterwegs" an. So wie damals warten die Juden jedes Jahr von neuem auf die Toraübergabe, denn der alljährlich immer wieder nachvollzogene Auszug aus Ägypten sollte kein der bloßen nationalen Befreiung dienender Selbstzweck sein, sondern einem geistigen Ziel dienen. Darüber wird Moses gleich zu Beginn seiner Sendung, die ihm gerade am Berg Sinai auferlegt wird, unterrichtet: "Wenn du das Volk aus Ägypten führst, werdet ihr Gott an diesem Berge dienen" (Ex. 3,12). Auch Pharao wird über den Zweck der von ihm geforderten Befreiung der Juden nicht im Unklaren gelassen: "Lass Mein Volk ziehen, dass sie Mir in der Wüste ein Fest feiern" (Ex. 5,1).
Die Tage des Omer-Zählens gelten daher auch als eine Reifeperiode. In ihnen reift im Lande Israel der Weizen, das für den Menschen wichtigste Getreide (Carlebach 1939). Gegen Schawuot ist er dann erntereif und so ist Schawuot auch das Erntefest, "Chag haKatzir". Mit dem landwirtschaftlichen soll indes auch ein entsprechender geistiger Reifeprozess einhergehen. Auch dieser braucht Zeit: Im Laufe von sieben Wochen soll sich die Freiheit von der Knechtung zur Freiheit zur Berufung steigern. Das Pessachfest, das im Zeichen der Freiheit von der Knechtschaft steht, mündet im Schawuotfest, an dem das jüdische Volk die zehn Gebote entgegennimmt, mit denen es der Freiheit zur Berufung entgegenreift.

Das Fest der Toraübergabe (Chag Matan Tora)

Die Zehn Gebote
An Schawuot stand das jüdische Volk am Berg Sinai und hörte dort Gottes Verkündung der zehn Gebote, die Moses anschließend auf zwei steinernen Tafeln übergeben wurden. Die Entgegennahme dieser Gesetzestafeln durch Moses wird im *Talmud auf eine bezeichnende Weise beleuchtet:

"Als Moses aufstieg, die Tora zu empfangen, sprachen die Engel zu Gott: Herr der Welt, was soll denn der Menschengeborene unter uns? Er aber sprach zu ihnen: Er kommt die Tora entgegenzunehmen. Da sprachen sie: Dieses kostbare Kleinod ... willst Du Fleisch und Blut geben?! ... Da sprach Gott zu Moses: Antworte du ihnen. ... Moses sprach dann: Herr der Welt, was steht denn in dieser Deiner Tora: ... 'Ich bin der Ewige, dein Gott, der dich aus Ägypten herausgeführt hat' ... seid ihr Engel denn aus Ägypten herausgeführt worden?! ... Was steht noch darin? ... 'Ehre Vater und Mutter' ... habt ihr denn Vater und Mutter?! Weiter: 'du sollst nicht morden, du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht stehlen' ... habt ihr denn mit Neid oder mit dem bösen Trieb zu kämpfen?! Da lenkten die Engel sofort ein ..." (Schabbat 89a).
 
Dieser *Midrasch führt uns anhand der zehn Gebote vor Augen, wie sehr sich im Judentum höchste geistige Wahrheit - die Tora - gerade im Bereich des Allermenschlichsten verwirklichen muss. Nicht auf himmlischen Höhen soll der Mensch wandeln, nicht nach überirdischen Sphären soll er trachten. Seine "condition humaine", seine Körperhaftigkeit, sein "So-und-nicht-anders-Sein" gilt dem Judentum nicht als ein abschüttelnswertes Ärgernis, es ist vielmehr gottgewollt: "Und Gott sah alles, was er geschaffen hat, und siehe es war sehr gut" (Gen. 1,31). Am Allermenschlichsten - nicht darüber und nicht daneben - soll sich die Religion entwickeln. Der Geist soll den Körper nicht überflüssig machen sondern durchdringen, das Erhabene soll das Alltägliche nicht verdrängen sondern gerade in ihm seine Verwirklichung suchen. Gerade der Alltag mit all seinen Versuchungen und existenziellen Unzulänglichkeiten - wirtschaftlicher Druck, gesellschaftliche Normen, körperliche und seelische Bedürfnisse - dient dem Judentum als die Matritze, auf der sich Heiligkeit entfalten soll, mehr noch: nur dort kann sie sich in Wahrheit entfalten (Raw *Soloweitchik, Isch haHalacha).

Die zehn Gebote sind (in Kurzfassung):


Erste Tafel
Zweite Tafel
1. Ich bin der Ewige dein Gott 6. du sollst nicht morden
2. du sollst keine Götzen neben Mir haben 7. du sollst nicht ehebrechen
3. du sollst den Namen Gottes nicht entweihen 8. du sollst nicht stehlen
4. Halte den Schabbattag ein 9. du sollst nicht Meineid schwören
5. Ehre Vater und Mutter 10. begehre nicht, was deines Nächsten ist

Auf zwei Gesetzestafeln wurden die zehn Gebote gegeben. Auf der ersten sind Gebote zwischen Mensch und Gott verzeichnet, auf der zweiten zwischenmenschliche Gebote (Rabbi Josef Albo , Sefer HaIkarim, 15. Jh.).
Wenngleich die jüdische Überlieferung besonderen Nachdruck gerade auf zwischenmenschliche Gebote legt (*Mischna Joma 8,9), so lässt sich das Judentum nicht auf sie reduzieren. Gebote zwischen Mensch und Gott gelten vielmehr manchen jüdischen Religionsphilosophen als die Eigenart des Judentums besonders kennzeichnend (Jehuda Halevi , Sefer HaKusari 2,48, 12. Jh.). In ihnen kommt die jüdische Beziehung zu Gott als einem direkt anzusprechenden "Du" zum Ausdruck.
Beachtenswert ist der Umstand, dass das auf der ersten Gesetzestafel befindliche Gebot "Ehre Vater und Mutter" mithin zu den Geboten zwischen Mensch und Gott gehört. Dies kann als ein Hinweis darauf angesehen werden, dass die Eltern-Kinder-Beziehung Elemente enthält, die sich nicht einfach in den Rahmen der üblichen zwischenmenschlichen Beziehungen einordnen lassen, sondern diese transzendieren.
Die zehn Gebote nehmen, obgleich in einer öffentlichen Theophanie verkündet, im Leben des Juden keinen prominenteren Platz ein als die insgesamt *613 Toragebote, die nach jüdischer Überlieferung Moses am Berg Sinai für die Juden übergeben wurden. Die betonte Einreihung der zehn Gebote unter die anderen Toragebote (Talmud Berachot 12a) hinderte die jüdische Religionsphilosophie nicht daran, sie zuweilen als die Essenz der Tora zu betrachten (Rabbi Saadja Gaon).
Ihre Verbreitung auf der Welt verdanken die zehn Gebote in einem hohen Maße ihrer Übernahme und Bekanntmachung durchs Christentum.

Die 613 Gebote
Das traditionelle Judentum ist nach seinem Selbstverständnis in der Hauptsache eine *Gesetzesreligion. Als Gesetzesreligion kann eine Religion definiert werden, die auf den Menschen in erster Linie durch verpflichtende Ge- und Verbote einzuwirken sucht. Die am Berg Sinai offenbarte Tora gibt den Juden 248 Gebote und 365 Verbote auf (Talmud Makot 23b), so dass "jedes der (nach jüdischer Tradition 248) Glieder des Körpers den Menschen ermuntert: 'Erfülle die Gebote', während ihn jeder einzelne Tag des Jahres ermahnt: 'Hüte dich, ein Verbot zu übertreten'" (Raschi z.St.). Mit Geboten gerüstet soll sich der Jude in der komplexen Wirklichkeit seinen Lebensweg bahnen.
Bereits Gottes allererste Hinwendung zum Menschen geschah nach dem Zeugnis der Bibel per Gebot: "Und Gott gebot dem Menschen: … Vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse sollst du nicht essen" (Gen. 2,16-17). Sieben Gebote gab Er nach jüdischer Überlieferung der Gesamtmenschheit auf (Sanhedrin 56a-57a). Sein Volk aber bedachte Er mit 613 Geboten.
Die Gebote enthalten überwiegend Forderungen ans menschliche Handeln, denn das Judentum will den Menschen formen. Dass sich gerade "des Menschen Handlungen prägend auf sein Bewusstsein auswirken" (Sefer Hachinuch), gilt als ein bekanntes Motiv der jüdischen Religionsphilosophie. Im Hinblick auf die durch die sinaitische Gesetzgebung erzielte Prägung des jüdischen Menschen und jüdischen Volkes formulierte es Heinrich Heine in seinen späten Tagen einmal so:

"Ich hatte Moses früher nicht sonderlich geliebt, wahrscheinlich weil ... ich dem Gesetzgeber der Juden seinen Hass gegen alle Bildlichkeit ... nicht verzeihte. Ich sah nicht, dass Moses ... den wahren Künstlergeist besaß ... Aber nicht wie die Ägypter formierte er seine Kunstwerke aus Backstein und Granit, sondern er baute Menschenpyramiden, er meißelte Menschen-Obelisken, ... ein Volk Gottes, das ... der ganzen Menscheit als Prototyp dienen konnte: Er schuf Israel!" (Geständnisse, 1854)
 
Der Jude soll die ihn prägenden Gebote daher nicht als Belastung, sondern als Ausdruck der besonderen Beziehung seines Volkes zu Gott, letztendlich als Ausdruck ihm erwiesener göttlicher Liebe empfinden: "Mit großer Liebe liebtest Du uns, Ewiger unser Gott", eröffnet ein bekannter jüdischer Gebetstext und fährt sogleich fort, diese Liebe zu erläutern: "Tora und Gebote, Vorschriften und Gesetze gabst Du uns".

Das Fest der Toraübergabe und die Schrift
Die dem Wochenfest zugeschriebene Rolle als Fest der Toraübergabe entstammt der *mündlichen Lehre, wird in der Schrift selbst jedoch nicht erwähnt - in ihr wird Schawuot lediglich als Fest der Erstlingsfrüchte bzw. der Weizenernte angesprochen. Dennoch lassen sich auch in der Schrift einige Anhaltspunkte für Schawuot als Fest der Toraübergabe finden (D.Z. Hoffmann zu Lev. 23,21):
  • Der Auszug aus Ägypten wird in Buch Exodus immer wieder als einem bestimmten Ziel dienend dargestellt: das jüdische Volk soll bei einem feierlichen Anlass Gott in der Wüste gegenübertreten (Ex. 3,12; 5,1; 7,16; 10,9; 10,25-26). Nach Ex. 19,1-16 fand dieses ausdrücklich als "Fest" (Ex. 5,1; 10,9) anvisierte Ereignis, die Offenbarung am Berg Sinai, im dritten Monat, d.h. dem Monat des Schawuotfestes statt.
  • In Dt. 4,9-10 ermahnt Moses das jüdische Volk in Gottes Namen, jenen denkwürdigen Tag, "als du vor dem Ewigen deinem Gott am Horeb (= Sinai) standst", niemals zu vergessen und sein Andenken für alle Generationen zu bewahren.
  • Rein landwirtschaftliche Feste ohne religiösen Charakter sind der Tora fremd. So schreibt sie dem ersten und dritten Wallfahrtsfest, *Pessach und *Sukkot, neben einer landwirtschaftlichen (Ex. 23,15-16; 34,18 u. 22) ausdrücklich auch eine geistig-spirituelle Funktion zu (Ex. 12,14-17; Lev. 23,42-43). Die Annahme, dass auch das zweite landwirtschaftliche *Wallfahrtsfest nicht zufällig im Monat der Toraübergabe stattfindet, mit jener - die ja nicht vergessen werden darf (Dt. 4,9) - vielmehr zusammenfällt, dürfte daher nicht allzu fernliegend sein. Erst dadurch gewinnt auch das Schawuotfest den für die Wallfahrtsfeste so charakteristischen landwirtschaftlich-geistigen Doppelcharakter.
Immerhin stellt sich die Frage nach dem Grund, warum das Wochenfest als einziges der drei Wallfahrtsfeste seine geistig-spirituelle Bedeutung - seine Funktion als Fest der Toraübergabe - nicht ausdrücklich aus der schriftlichen, sondern aus der mündlichen Lehre bezieht. Gesetzestreue jüdische Denker (S.R. Hirsch, Carlebach 1927) sehen gerade darin einen Beleg für die Zentralität der mündlichen Lehre im Judentum, die am Fest der Toraübergabe ganz besonders betont werden soll:
"Und nun siehe! Die Gedächtnisfeier dieser Tora, ... dieser einzigen Bedingung unserer ganzen Existenz, ohne welche alle die Güter, denen die übrigen Feste geweiht sind ... Dasein und Bedeutung verlören, gerade sie ist mit keinem Wörtchen in dem schriftlichen Gottesworte erwähnt, nur der mündlichen Überlieferung verdanken wir das Offenbarungsfest der schriftlichen Lehre ... Die schriftliche Lehre selber gibt sich preis, so wir die mündliche verleugnen möchten ... So will die schriftliche Lehre nur gefeiert werden in einem Kreise, den der lebendige Hauch des gleich ihr göttlichen Wortes der mündlichen Lehre durchweht, und setzt das Dasein dieser mündlichen Überlieferung als Vorbedingung ihrer eigenen Existenz in Israel. So kündet sich die schriftliche Lehre selber an als getragen und verbürgt durch die mündliche Lehre (S.R. *Hirsch, Gesammelte Schriften 1).
 
Die Bedeutung der mündlichen Lehre
Die schriftliche jüdische Lehre, die Tora, wurde seit jeher von der sog. mündlichen Lehre begleitet. Diese wurde den Juden nach jüdischer Tradition in ihrem Kern ebenfalls am Berg Sinai gegeben und von da an nach bestimmten ihr inherenten Prinzipien stetig weiterentwickelt. Diese ursprünglich nur mündlich weiterzugebende Lehre (Talmud Temura 14b) wurde schließlich in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten niedergeschrieben. Das umfassendste Werk der mündlichen Lehre stellt der *Talmud dar. Die vom *pharisäischen Judentum vertretene Autorität der mündlichen Lehre war im Laufe der Geschichte die Hauptzielscheibe sowohl äußerer als auch innerer Angriffe auf das überlieferte Judentum. So wurde die mündliche Lehre gleichermaßen von *Sadduzäern, *Samaritanern, Christen, *Karäern und dem *Reformjudentum in Frage gestellt. Ihre Autorität wird heute in aller Entschiedenheit nur vom *orthodoxen Judentum anerkannt.
Die Unumgänglichkeit einer mit der schriftlichen einhergehenden mündlichen Überlieferung wird im Talmud (Schabbat 31a) anhand einer Begebenheit illustriert:
 
"Es war einmal ein Nichtjude, der vor Schamaj trat und fragte: 'Wieviele Lehren habt ihr?" Dieser antwortete ihm: 'Zwei, eine schriftliche und eine mündliche Lehre'. Da sprach der Fremde: 'Die schriftliche nehme ich dir ab, die mündliche nicht. Lass mich zum Judentum übertreten, bringe mir jedoch nur die schriftliche Lehre bei'. Da sandte ihn Schamaj entrüstet von sich. Daraufhin trat der Fremde (mit demselben Anliegen) vor Hillel. Dieser nahm ihn an (und fing sogleich an ihn zu unterrichten). Am ersten Tag brachte er ihm (das Alphabet) bei: Alef, Bet, Gimmel, Dalet ... Am nächsten Tag lehrte er es genau umgekehrt. Da wunderte sich der Schüler: 'Gestern lehrtest du es doch ganz anders'. Hillel aber antwortete ihm: 'So wie du dich auf mich in dieser Sache verlassen musstest, sollst du dich auf mich auch im Hinblick auf die mündliche Lehre verlassen'".
 
Dieser *Midrasch will besagen, dass uns mündliche Traditionen jeglicher Art - wie z.B. die Überzeugung, dass ein "A" auch tatsächlich als "A" und nicht als "B" gesprochen wird - überall unmerklich begleiten. Eine grundsätzliche Ablehnung jeglicher mündlichen Überlieferung, so Rabbi Saadja Gaon (882-942), kann sich ohnehin keine Kultur leisten, denn dann würde ja keiner darauf vertrauen, dass "seine Mutter auch tatsächlich seine Mutter, geschweige denn sein Vater sein wirklicher Vater ist" (Emunot weDe'ot).
Dennoch versteht es sich von selbst, dass eine nur mündlich überlieferte Lehre über Generationen hinweg in vielerlei Hinsicht anfälliger ist als eine schriftliche: Sie kann leichter vergessen, missverstanden und verfälscht werden. Trotzdem kann eine auf göttlicher Offenbarung beruhende Lehre, die für alle Zeiten Gültigkeit beansprucht, nicht auf sie verzichten. Denn die Realität enthält unerschöpflich viele Entwicklungsmöglichkeiten, jede zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt schriftlich fixierte Lehre kann aber geradezu per definitionem nicht alle diese Möglichkeiten ausformulieren. Nur eine von Toragelehrten auf Grund bestimmter Richtlinien sicher gehandhabte mündliche Überlieferung kann ewigen Prinzipien immer wieder neue Applikationen abgewinnen. Dies ist die Essenz der mündlichen Lehre. Diese bewahrt selbst in ihrer schriftlichen Form in gewisser Hinsicht ihren mündlichen Charakter, indem sie auch nach ihrer Niederschreibung (=Mischna und Talmud) einem bloßen Leser ohne die Anleitung eines Lehrers meist unverständlich bleibt.
Die Bedeutung der mündlichen Lehre im Judentum kann nicht hoch genug eingeschätzt werden und wird daher immer wieder hervorgehoben. So gilt sie als der eigentliche Garant für die Unaustauschbarkeit Israels, das sich allein in deren Besitz weiß (Midrasch Bamidbar Rabba 14), als der unverfälschte Geist des Judentums (S.R. Hirsch, Die 19 Briefe, 18. Brief), ja als die unverzichtbare Voraussetzung für die Annahme der schriftlichen Lehre (A.I. *Kook, Orot).

Das Torastudium
Das Studium der Tora - worunter das ganze breite Spektrum der mündlichen und schriftlichen Lehre verstanden wird - ist im Judentum ein Wert an sich. Die oftmals betonte Praxisorientiertheit der jüdischen Lehre, d.h. die Forderung, dass die in der Tora gelernten Gebote und Lehrsprüche verinnerlicht und befolgt werden müssen - ja als bloßer unverbindlicher Wissenserwerb mehr schaden als nützen (Midrasch Wajikra Rabba 35) - steht hierzu nicht im Widerspruch. Im Gegenteil. Gerade weil die Tora so praxisbezogen ist, weil sie dem Juden mehr als ein Interessensgebiet, mehr als ein "Studienfach" sein, vielmehr sein ganzes Leben durchdringen und alles andere zur Nebensache machen soll (Carlebach, 1934), gerade das macht sie zu einem Wert an sich. Im Idealfall soll ein Leben ohne Torastudium für den Juden genauso unvorstellbar sein wie ein Leben an Land für die Fische (Talmud Berachot 61b).
Nach einem weit verbreiteten Brauch wird die Nacht des Schawuotfestes dem Torastudium gewidmet. In vielen Gemeinden wird ein gemeinschaftliches, die ganze Nacht währendes Lernen organisiert, das sich entweder an einer als "Tikun Lejl Schawuot" bezeichneten Textsammlung orientiert oder frei gestaltet wird. Das gemeinschaftliche, bis zum Morgengebet währende Studium soll im jüdischen Menschen alljährlich immer wieder dieselbe freudige Erwartungshaltung wecken, die einem derart großen Ereignis wie der Toraübergabe zusteht. Aus dem Torastudium heraus empfängt man die Tora alljährlich immer wieder neu, um so ihre ewige Aktualität zu bekunden. "Und es seien diese Worte, die Ich dir heute auftrage, auf deinem Herzen …" (Dt. 6,6) - für die Tora ist immer "heute" und so soll sie daher vom Juden auch stets aufgenommen werden: als ein soeben eingetroffener, brandaktueller und auf unsere dringendsten Anfragen und Bedürfnisse Bezug nehmender Brief von Gott (Raschi z.St.).

Das Fest der Erstlingsfrüchte und der Weizenernte

Von Schawuot an wurden von den Landwirten Israels die Erstlingsfrüchte des Landes im *Tempel dargebracht. Es handelt sich hierbei um die Erstlinge der sieben Fruchtarten, durch die sich nach Dt. 8,8 das Land Israel besonders auszeichnet: Weizen, Gerste, Weintrauben, Feigen, Granatäpfel, Oliven und Datteln (Mischna Bikurim 1,3).
Am Schawuotfest wurden im Tempel darüberhinaus zwei aus dem neuen Weizen gebackene Brote dargebracht (Lev. 23,17), mit denen gewissermaßen die neue Weizenernte geweiht wurde. Schawuot ist mithin ein Fest der Freude über den Ertrag des Landes, ja über das Land als solches. Denn nur so ist das zentrale Motiv der dem Landwirt beim Darbringen der Erstlingsfrüchte von der Tora auferlegten Rezitation (Dt. 26,5-11) zu verstehen, worin der geradezu hoffnungslose Zustand der Vorfahren, die als landlose Fremde anderen Völkern ausgeliefert waren, mit der Idylle des auf eigenem Boden sitzenden Volkes kontrastiert wird: "Dem Untergang nahe war mein Vater, da zog er nach Ägypten … Die Ägypter indes misshandelten uns … Da schrieen wir zu Gott … und Er erhörte unsere Stimme … und gab uns dieses Land, darin Milch und Honig fließt. So bringe ich nun die Erstlinge des Bodens dar, den Du mir gegeben hast, Herr…". In dieser Hinsicht kann auch das ursprüngliche Schawuotfest in der Sinai-Wüste als eine Vorbereitung auf die in Aussicht gestellte baldige Landnahme angesehen werden. Denn nur im Lande Israel lässt sich die Tora vollständig verwirklichen (Talmud Sota 14a; Nachmanides zu Lev. 18,25). Wenn beim Auszug aus Ägypten mithin die Erwartung, bald Gottes Tora zu empfangen, maßgebend war, so geschah die Toraübergabe ihrerseits bereits im Hinblick auf das Land Israel, dessen Inbesitznahme den Juden zwecks der nur darin möglichen optimalen Erfüllung der Tora anbefohlen wurde. Der landwirtschaftliche Charakter des Schawuotfestes als Erntefest weist daher über sich selbst hinaus: er bringt die Zentralität des Landes Israel für das Judentum zum Ausdruck.

Das Buch Ruth

An Schawuot wird in den Synagogen das Buch Ruth gelesen. Dieses Buch stellt ein einzigartiges Zeugnis des Innenlebens des jüdischen Volkes in der noch vorköniglichen Zeit dar. In keinem anderen Buch der Bibel erhält der Leser einen solchen Einblick in den Alltag im Land Israel zu jener Zeit (Carlebach, 1928).
Die innere Beziehung des Buches Ruth zum Schawuotfest ist vielfältig. Die Weisen bemerken, dass dieses Buch von allen anderen Büchern der Bibel durch eine besondere, in ihm immer wieder zur Sprache kommende Eigenschaft herausragt: "Chessed", die selbstlose Nächstenliebe (Midrasch Ruth Rabba 2). Gerade sie wird auch als die Essenz der an Schawuot proklamierten Tora angesehen: "Rabbi *Akiwa sprach: 'Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst' (Lev. 19,18) - das ist ein Grundprinzip der Tora" (Bereschit Rabba 24). Es mag kein Zufall sein, dass gerade dieser Vers aus der Tora als der auf der ganzen Welt wohl bekannteste Ausspruch der Heiligen Schrift gilt.
Eine weitere Beziehung zwischen dem Buch Ruth und dem Schawuotfest läßt sich am Status der Heldin dieses Buches, der Moabiterin Ruth aufzeigen. Ruth gilt als der Prototyp einer echten *Akiwa- Proselytin: eine aus tiefster Überzeugung zum Judentum übertretende Nichtjüdin, die selbst das bitterste Schicksal auf sich zu nehmen bereit ist, nur damit "dein Volk mein Volk und dein Gott mein Gott" wird (Ruth 1,16). Auch die Juden zeichnete bei der Toraübergabe dieselbe unbedingte Bereitschaft aus, das "Joch des Himmelreiches" anzunehmen (Midrasch zu Ex. 24,7).
Die zentralen Teile des Buches Ruth spielen sich zur Zeit der Gersten- und der Weizenernte ab (Ruth 1,22; 2,23; 3,2). Dies ist auch die Zeit des Schawuotfestes. Gerade zu dieser Ertrag bringenden Jahreszeit, in der sich das Land Israel von seiner besten Seite zeigt, kommt auch die Moabiterin Ruth, die die Tora auf sich nimmt, im Lande Israel zur vollen Blüte.
So wurde gerade Ruth das Verdienst zuteil, "Mutter der Monarchie" zu werden (Bawa Batra 91b). Denn aus ihr ging später, in der dritten Generation, der König David hervor (Ruth 4,22), der nach jüdischer Tradition an Schawuot geboren wurde und an Schawuot auch starb (Jerusalemer Talmud Chagiga 2,3). David begründete das einzige legitime Königsgeschlecht in Israel, aus dem nach jüdischer Überlieferung der *Messias hervorgehen wird (Sukka 52a).
 
Festbräuche

Am Tag der Übergabe der Tora, der "Lehre des Lebens", kleidete sich nach jüdischer Überlieferung der Wüstenberg Sinai ausnahmsweise in ein üppig-grünes Flora-Kleid. An Schawuot pflegt man daher die Häuser und Synagogen mit grünen Blättern und Zweigen zu schmücken. Denn die Tora ist nichts anderes als der im Garten Eden erwähnte "Baum des Lebens" (Gen. 2,9): "Mein Sohn, vergiss die Tora nicht … denn … ein Baum des Lebens ist sie allen, die an ihr festhalten" (Sprüche 3,1; 3,18).
Ein weiterer Schawuot-Brauch besteht darin, an diesem Fest Milchgerichte zu essen, denn am Tage der Toraübergabe wurden die Juden neben anderen Geboten zum ersten Mal auch zum Einhalten einer *koscheren Küche verpflichtet, deren Hauptmerkmal die Trennung zwischen milchigen und fleischigen Speisen ist. Da die Zubereitung einer koscheren Fleischmahlzeit mit zusätzlichen Beschränkungen verbunden ist, aßen sie am Tag der Toraübergabe erstmal "milchig".
Mit dem Einsetzen des *zionistischen Aufbauwerks gewann auch das mit der Landwirtschaft des Landes Israel verbundene Fest der *Erstlingsfrüchte wieder an Bedeutung. Mit dieser Bedeutung konnten sich auch die Pioniere der zionistischen Bewegung identifizieren, so dass das Schawuotfest insbesondere in vielen landwirtschaftlichen Siedlungen als Erntedankfest begangen wird.
Fäkultat für Jüdische Studien הפקולטה למדעי היהדות Bar Ilan Universität, Ramat Gan, Israel אוניברסיטת בר אילן