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Judentum

Jom Kippur


Quelle

"Am zehnten des siebenten Monats ist der Versöhnungstag, heilige Berufung sei er euch“ (Lev. 23,27), „… denn an diesem Tage wird Er euch sühnen, von all euren Sünden sollt ihr rein werden vor dem Ewigen. Eine Schabbatfeier sei er euch und ihr sollt euch kasteien, eine ewige Satzung“ (Lev. 16,30-31).
 
 
Die Bedeutung des Festes
 
Der heiligste jüdische Feiertag
Jom Kippur ist Versöhnungstag. An ihm versöhnt sich der Mensch mit Gott und Mitmensch. Es ist der höchste jüdische Feiertag. Auch viele Juden, die sonst nie den Weg ins Bethaus finden, verbringen diesen Tag oder zumindest einen Teil davon in der Synagoge. In Israel kommt das öffentliche Leben gänzlich zum Stillstand. Fernsehen und Radio unterbrechen für 26 Stunden ihre Programme, die Straßen sind, ohne behördlichen Zwang, autofrei. Die das ganze Jahr beherrschende öffentliche Geschäftigkeit setzt aus. Jom Kippur ist durch und durch nach innen gekehrt.

"Schabbatfeier" und "Darbenlassen"
Als einziger unter den jüdischen Feiertagen wird der Jom Kippur in der *Tora als "Schabbat Schabbaton", ein Tag heiligster Ruhe, bezeichnet (Lev. 16,31; 23,32), wie auch der *Schabbat selbst (Ex. 31,15; 35,2). Auch im Hinblick auf den Umfang des *Werkverbots wird er, im Gegensatz zu allen anderen Feiertagen, dem wöchentlichen Schabbattag gleichgesetzt (Mischna Megila 1,5, Schulchan Aruch, Orach Chajim 611,2;). Die Enthaltung von jeder Werktätigkeit am Schabbat und am Jom Kippur, wie auch an den anderen Feiertagen, dient vor allem der praktischen Durchsetzung des *Ruhegebotes . Am Jom Kippur kommen indes noch „Enthaltungen“ ganz anderer Art hinzu, die ihm seinen besonderen Charakter verleihen. Diese zielen nämlich nicht auf eine zusätzliche Einschränkung der Werktätigkeit ab, sondern auf das Darbenlassen der Lebenskräfte ("Inuj Nefesch"). Wenngleich das Judentum Selbstkasteiungen als Mittel zur religiösen Erhebung im allgemeinen ablehnt, so bildet der Jom Kippur in dieser Hinsicht eine Ausnahme.
Zunächst ist am Jom Kippur strenges Fasten angeordnet. Dieses betrifft, wie jedes jüdische Fasten, sowohl Essen als auch Trinken. Nur in medizinischen Ausnahmefällen wird das Fastengebot außer Kraft gesetzt. Hinzu kommen nach der *mündlichen Lehre noch weitere Enthaltungsgebote (wie z.B. das Verbot des Waschens, des Sexuallebens und des Tragens lederner Schuhe, Mischna Joma 8,1). Die Fastenpflicht sowie die anderen Enthaltungspflichten treten am Vorabend des Jom Kippur vor Sonnenuntergang in Kraft und dauern bis zum Nachteinbruch am Ausgang des Jom Kippur.

Sündenvergebung
Sündenvergebung als ein Akt göttlicher Gnade
Der Kern des Versöhnungstages ist die von Gott dem Menschen gewährte Sündenvergebung. Es ist bezeichnend, daß gerade der Tag der Sündenvergebung, und nicht etwa der Tag des Auszugs aus Ägypten (*Pessach) oder der Tag der Übergabe der Tora (*Schawuot), als der höchste jüdische Feiertag gilt. Sündenvergebung ist ein an Wunder grenzendes Privileg, ein Gnadengeschenk Gottes an den Menschen. Denn sie bedeutet ein Ausscheren aus der sonst streng kausal bestimmten Weltordnung, indem sie gegen das von Ursache und Wirkung gezeichnete Naturgesetz verstößt. Das von Gott bestimmte, ebenso wie das Naturgesetz von Kausalität gezeichnete moralische Weltgesetz, nach dem jede böse Tat (als Ursache) letztendlich, und sei es auch "erst im Jenseits“", Folgen für deren Urheber (Wirkung) haben muß, kann von Gott ausgesetzt werden.
Doch auch dies geschieht nach Regeln, die eine höhere, über der Kausalität stehende Ordnung und Hierarchie offenbaren. Bevor wir auf diese genauer eingehen, gilt es, den Begriff der Sünde zu klären.
Was ist eine Sünde?
Der Begriff "Sünde" mutet uns etwas altbacken an, ja er mag vielfach gar als peinlich empfunden werden. Die aufgeklärte Säkulargesellschaft kennt keine Sünden. Sie kennt vielmehr Verbrechen. Ein Verbrechen ist immer ein Verstoß gegen ein Menschenrecht. Nach moderner Rechtsauffassung ergeben sich nämlich sämtliche Pflichten der Menschen, und hier besonders die Verbote, ausschließlich aus Rechten von Mitmenschen. Aus dem Recht auf Leben ergibt sich das Verbot des Tötens, aus dem Recht auf Eigentum das Verbot des Stehlens u.s.w. Somit ist eine menschliche Pflicht vom rechtsphilosophischen Standpunkt her niemals eigenständig, denn sie leitet sich immer von einem Recht ab, dem Recht des Mitmenschen (nach I. Breuer, 1912; dazu schon Mendelssohns "Jerusalem", 1783).
Der Begriff der Sünde beinhaltet indes eine zusätzliche Dimension. Er beruht auf der ausdrücklichen oder auch nur stillschweigenden Annahme einer "höheren göttlichen Ordnung". Diese macht sich u.a. durch die Existenz von dem Menschen auferlegten "Menschenpflichten" bemerkbar. Diese Pflichten sind in entscheidender Hinsicht eigenständig, denn sie sind nicht immer von einem korrespondierenden Menschenrecht ableitbar. Nach den Maßstäben einer solchen höheren Ordnung gelten zwar die meisten in der modernen säkularen Gesellschaft als Verbrechen eingestuften Taten durchaus auch als Sünden, doch impliziert der Begriff der Sünde eben mehr als die Verletzung eines Menschenrechts: Er beinhaltet darüberhinaus auch den Verstoß gegen eine angenommene göttliche Weltordnung.
Die Bedingungen der Sündenvergebung
Die oberste Regel der Sündenvergebung heißt nach jüdischer Auffassung:
Keine Sündenvergebung ohne Sündenbekenntnis.
Das Sündenbekenntnis, die bewußte Zurkenntnisnahme der begangenen Sünde, ist die zentrale Forderung an den um Vergebung bittenden Menschen. Es ist das Herzstück der *Teschuwa, der Umkehr zu Gott (Maimonides, Mischne Tora, Hilchot Teschuwa 1,1). Das vom reuigen Menschen verlangte Sündenbekenntnis, das im übrigen nicht nur auf den Jom Kippur beschränkt ist, an ihm jedoch in den Mittelpunkt der religiösen Erfahrung rückt, muß bestimmte Forderungen erfüllen, will es als Ausdruck ehrlicher Umkehr gelten. Die *Halacha, das jüdische Gesetz, legt Umfang und Geltungsbereich der Sündenvergebung genau fest:
  1. Ein Sündenbekenntnis ohne ehrliche Reue sowie ohne den festen Entschluß, die Sünde nicht wieder zu begehen, ist wertlos:
    "Wenn einer sagt: ich werde sündigen und Buße tun, nochmals sündigen und nochmals Buße tun, dem wird keine Buße ermöglicht"(Mischna Joma 8,9).
  2. Das Sündenbekenntnis geschieht immer direkt vor Gott, der reuige Mensch kann und muß ohne Vermittler vor seinen Schöpfer treten.
  3. Wenn es sich bei der bereuten Sünde um eine Sünde gegen einen Mitmenschen (und nicht gegen Gott allein) handelt, muß der angerichtete Schaden, soweit möglich, erst wiedergutgemacht und darüberhinaus auch die Verzeihung des Betroffenen erlangt werden:
    "Sünden des Menschen gegen Gott sühnt der Versöhnungstag, Sünden des Menschen gegen den Mitmenschen sühnt der Versöhnungstag nicht, ehe man dessen Vergebung erlangt hat" (Mischna Joma 8,9).
    Dieser halachischen Bestimmung liegt eine grundlegende Auffassung über das Verhältnis von Mensch zu Mitmensch und zu Gott zugrunde. Sünden gegen Mitmenschen sind auch immer Sünden gegen Gottes Gebote und somit gegen Gott.
    Intakte, einwandfreie zwischenmenschliche Beziehungen sind im Judentum die Basis zur Sündenvergebung.

Selbsterkenntnis
Die dem Juden am Jom Kippur versprochene Vergebung kommt mithin nicht von selbst. Sie muß vielmehr eine entsprechende seelische Bereitschaft im Menschen vorfinden und anschließend hart erarbeitet werden: Wer nicht Teschuwa tut, wer nicht "umkehrt", kann nicht auf Sündenvergebung hoffen. Die unverzichtbare Grundlage jeder "Umkehr“" ist aber das jeder Selbstgerechtigkeit entblößte reine Streben nach Wahrheit (Rabbiner Kook, Orot Hateschuwa 15,1). Schonungslose Selbsterkenntnis ist daher zur wahren Umkehr unumgänglich. Ohne eine "rosa Brille" pflegt man meistens jedoch nur die anderen zu sehen, während man sich selbst, wenn es darauf ankommt, nur allzugern "milderne Umstände" zubilligt. Selbsterkenntnis heißt im Judentum daher immer, aus sich selbst herauszutreten und sich gewissermaßen "aus Gottes Sicht", sub specie aeternitatis, zu betrachten, indem sich der Mensch demütig einem übergeordneten und von ihm nicht manipulierbaren Maßstab unterwirft. Der wird uns durch die heiligen Schriften vermittelt. Diese stellen, unter anderem, ein einzigartiges Zeugnis einer unbeschönigten Beschreibung der menschlichen moralischen Misere dar, aus der es nach jüdischer Überlieferung eben nur den einen Ausweg gibt: Teschuwa, Umkehr.
"Kehre um Israel, zum Ewigen, deinem Gotte, denn du bist gestrauchelt durch deine Sünde"(Hosea 14,2).
Am Jom Kippur steht der Jude mithin vor Gott und unterzieht sich, soweit seine Seelen, und Verstandeskräfte reichen, einer geradezu "kathartischen" Selbstanalyse.

 
Der Mensch: Zwischen Gottes Ebenbild und Staub und Asche.
Nahezu engelgleich, grundlegenden körperlichen Bedürfnissen entsagend, soll der Jude an diesem Tag vor seinen Schöpfer treten. Die Engelähnlichkeit, so untypisch sie für das Judentum auch an allen anderen Tagen des Jahres sein mag, bildet am Jom Kippur ein Hauptmotiv. Einmal im Jahr soll diese Stufe, so weit die Kräfte reichen, erklommen werden, damit die hierbei gewonnenen Einsichten und Gefühle dann machtvoll in den Jahreszyklus hineinstrahlen, bis zum folgenden Jom Kippur.
Dabei soll der Betende am Jom Kippur, zwischen Engel und Mensch, zu keinem Zeitpunkt seine urmenschliche Bedürftigkeit und die damit verbundene moralische Korrumpierbarkeit vergessen. Im Gegenteil: Gerade jetzt kann und soll er die Kraft und den Mut aufbringen, sich ihres ganzen Umfangs bewußt zu werden. Wenn nicht jeden Tag, so soll er zumindest einmal im Jahr ungeschminkt in den gar nicht so schmeichelhaften Spiegel schauen, sich seine Schwächen wirklich eingestehen und sie vor dem ohnehin allwissenden Gott offen aussprechen. Zehnmal spricht der Jude an diesem Tag das Sündenbekenntnis, immer wieder lenkt er den Blick auf all das in seinem Leben und seiner Person, was er sonst immer so gern zu verdrängen sucht: seine moralische Unzulänglichkeit.
Zwischen diesen beiden Extremen, der Engelgleichheit und der Sündhaftigkeit, liegt die seelische Spannung dieses "großen und furchtbaren Tages" begründet, zwischen ihnen pendelt das betende Bewußtsein hin und her.

Die Gebete des Tages
Den Jom Kippur verbringt der Jude im Gotteshaus. In den meisten Synagogen wird während der Tagesgebete nur eine einzige Pause eingelegt.
Während an einem normalen Wochentag drei, an Schabbat und Feiertagen jeweils vier Gebete gesprochen werden, hebt sich der Jom Kippur durch die an ihm gesprochenen fünf Gebete von allen anderen Feiertagen ab. Hier sollen zumindest einige zentrale Aspekte dieser fünf Hauptgebete angesprochen werden.
 
Kol Nidre und Abendgebet, Über Macht und Ohnmacht von Gelübden
Das Abendgebet, mit dem der Jom Kippur beginnt, wird durch das Kol Nidre Gebet eingeleitet. Darin wird der menschliche Wille zur Besserung der noch menschlicheren Neigung zum Versagen gegenübergestellt.
Kol Nidre, übersetzt "alle Gelübde", heißt dieses Gebet nach dessen zwei (aramäischen) Anfangsworten. Um Nachsicht bittend läßt sich darin ein jeder die von ihm bei dieser oder jener Gelegenheit gemachten, schließlich jedoch nicht erfüllten Gelübde von der als Laienrichterkollegium konzipierten Gemeinschaft als aufgehoben bescheinigen. Was genau aber ist ein Gelübde?
Ein Gelübde ist ein guter Vorsatz, der zu seiner Bekräftigung zu einer heiligen Pflicht aufgewertet wurde.
Das mag zwar im Augenblick der Ablegung des Gelübdes gut gemeint gewesen sein, bei seiner Nichterfüllung indes ungewollte Konsequenzen haben. Während nämlich ein nicht eingehaltener guter Vorsatz nur eine Enttäuschung nach sich zieht, birgt ein nichterfülltes Gelübde, wegen des ihm verliehenen Heiligkeitscharakters, auch eine Entweihung des Gottesnamens in sich. Unsere guten Vorsätze sollen daher fortan besser an keine Gelübde gebunden sein.
Die gelübdeannullierende Macht des Kol Nidre Gebetes erstreckt sich nur auf Gelübde zwischen Mensch und Gott und nicht auf Gelübde, in denen man sich einem Menschen gegenüber verpflichtet hat. Die Verpflichtungskraft solcher Gelübde bleibt vom Kol Nidre Gebet unangetastet.
 
Morgengebet: Die dreizehn Eigenschaften göttlicher Gnade
Die zentrale Passage des Morgengebetes enthält, wie die anderen Jom Kippur Gebete auch, die sog. *Slichot: Bittgebete, in denen Gott um Sündenvergebung und darum, Gnade vor Recht ergehen zu lassen, gebeten wird. Das Herzstück der Slichot ist die Lesung der "dreizehn Eigenschaften göttlicher Gnade" (Ex. 34,6-7). Diese wurden Moses auf seine Bitte hin, Gottes Herrlichkeit schauen zu dürfen (ebd. 33,18), als Gottes allerhöchster Gnadenerweis offenbart: "Ich werde alle Meine Güte an dir vorbeiziehen lassen“, heißt es in der Schrift zu ihrer Einführung ( ebd. Vers 19). Mehr ist keinem menschlichen Wesen vergönnt: „Mein Angesicht kannst Du nicht schauen, denn Mich schaut kein Mensch und lebt" (ebd. Vers 20).
Den dreizehn Eigenschaften göttlicher Gnade wird, wenn richtig gesprochen und verinnerlicht, große Sühnekraft zugeschrieben: "Immer, wenn Israel sündigen, sollen sie sie vor Mir ihrer Ordnung gemäß aufsagen, und Ich werde ihnen verzeihen", denn "es ist verbürgt, daß ein Gebet, das die dreizehn Eigenschaften göttlicher Gnade enthält, nicht unbeantwortet bleibt", heißt es im *Talmud (Rosch Haschana 17b).
Auf die ersten beiden dieser dreizehn Eigenschaften soll hier eingegangen werden. Sie bestehen in der schlichten Wiederholung des Gottesnamens. Dazu bemerkt der Talmud, daß Gott vor der Sünde (die erste Nennung des Gottesnamens) und nach der Sünde (die zweite Nennung des Gottesnamens) derselbe Gott bleibt (ebd.). Mit anderen Worten: Der Mensch, nicht Gott, hat sich durch die Sünde geändert. Im Laufe der Generationen wurde diese fast simpel anmutende talmudische Feststellung immer wieder tiefsinnig zu interpretieren versucht. In neuerer Zeit wurde sie von Rabbiner Soloweitschik (Nach P. Peli, On Repentance, 1980, S. 95) dahingehend gedeutet, daß selbst die Veränderungen, die ein Mensch in Folge einer von ihm begangenen Sünde durchmacht, ein Hinweis auf die Absolutheit, und somit Unveränderlichkeit, des göttlichen Maßstabs sind, der an ihn gleichermaßen vor wie auch nach der Sünde angelegt wird. Das schlechte Gewissen, das sich auch bei widerstrebenden Menschen nach begangener Sünde auf diese oder jene Art bemerkbar macht, soll ihn auf die von seiner Sünde durchaus unbeeinträchtigte göttliche Führung der Welt aufmerksam machen. Die als beglückend empfundene Gottesnähe vor der Sünde und eine schmerzlich gefühlte oder sich in Verdrängung äußernde Gottesferne nach der Sünde sind demnach nur zwei Seiten derselben Münze: zwei unterschiedliche Echos, welche ein und dieselbe göttliche Realität in der menschlichen Seele auslöst.
 
Mussafgebet: Der Gottesdienst im heiligen Jerusalemer Tempel
Die dem Morgengebet folgende erste *Toralesung des Jom Kippur hat den an diesem Tag von der Tora vorgeschriebenen Tempelgottesdienst in Jerusalem zum Thema (Lev. Kap. 16). Dieser wurde am Jom Kippur ausschließlich vom Hohepriester durchgeführt. Das *Mussafgebet greift dasselbe Thema auf, stellt es jedoch in einen größeren Rahmen, in dem der Bogen von der Schöpfung über die Geschichte der Menschheit bis hin zum Hohepriester am Jom Kippur gespannt wird:
"Du hast am Anfang die Welt gestiftet, die Erde gegründet und alle Wesen darin erschaffen", lautet der Anfang des "Seder Awoda", der Beschreibung des vom Hohepriester am Jom Kippur veranstalteten Tempelgottesdienstes. In der Folge ist von Adam, dann von der Erwählung Noahs die Rede, mit dem Gott den "Bund des Regenbogens" schloß. Erst nachdem auch dieser (nach Adam bereits zweite) Anlauf zur Wiederherstellung einer idealen universalen Menschheitsbeziehung zu Gott scheitert, wird, nach dem Zeugnis der Tora, der Weg der Partikularität beschritten:
Gott erwählt Israel aus allen Völkern zu Seinem Volk;
Er erwählt den Stamm Levi aus allen israelischen Stämmen, Ihm im Heiligtum zu dienen;
Aus dem Stamm Levi erwählt er die Nachkommen Aharons, nur sie sollen Priester im Tempel sein;
Aus den Priestern wird ein Priester zum Hohepriester ernannt. Nur er darf einmal im Jahr, am Jom Kippur, ins *Allerheiligste hineintreten. Das war der Höhepunkt, der zentrale Moment des Tempelgottesdienstes am Jom Kippur:
"Dann ging der Hohepriester ins Allerheiligste, wo er an die heilige Lade herantrat, zwischen deren Stangen er das Gefäß mit dem Räucherwerk hinstellte...
Dort verweilte er, bis der ganze Raum mit Rauch erfüllt war. Rückwärts ging er dann hinaus, reinen Herzens, bis er den Vorhang erreichte..."
Bevor er hinausging, sprach der Hohepriester ein Gebet für die Allgemeinheit.

Daß der von diesem geradezu "erwähltesten" Mann der Welt
am zentralsten jüdischen Feiertag und am heiligsten Ort
des heiligen Tempels in der heiligsten Stadt des heiligen Landes veranstaltete Gottesdienst in den Dienst der universalen und die ganze Menschheit umfassenden Schöpfung gestellt wird, verlangt besondere Beachtung. Es ist ein bezeichnender Hinweis darauf, daß der jüdische Partikularismus in seinem Inneren Wesen als einem welt- und menschheitsumspannenden Universalismus dienend aufgefaßt wird.
 
Nachmittagsgebet: Das Wunder von Ninive
Bei der der Toralesung des Nachmittagsgebetes folgenden *Prophetenlesung wird das Buch Jona gelesen. Der Grund für die Lesung dieses Buches liegt in dem darin beschriebenen „Wunder“: Nicht die wundersame Reise Jonas im Walfischinneren sondern die Rückkehr einer ganzen Stadt zu Gott ist das wahre Wunder des Jonabuches (U. Simon, 1992). Ninive, "eine große Stadt mit mehr als hundertundzwanzigtausend Menschen" (Jona 4,11), die Hauptstadt des mächtigen Assyrien, das Paris des damaligen Nahen Ostens, ein Hort der bereits zur Norm gewordenen glitzernden Sünde soll von Gott vernichtet werden. Zur letzten Mahnung sendet Er einen jüdischen Propheten, um diese nichtjüdische Stadt vor dem bevorstehenden Untergang zu warnen und ihr eine letzte Chance zur Umkehr, zur Teschuwa zu geben. Und siehe, es geschieht ein Wunder, er wird nicht mit Spott davongejagt, sondern erhört: "Als die Sache an den König von Ninive gelangte... ließ er ausrufen und ansagen: ...ihr sollt umkehren, ein jeder von seinem bösen Wandel und von dem Raub in seinen Händen. Wer weiß, vielleicht wird Gott sich wieder bedenken und von Seiner Zornglut Abstand nehmen, so daß wir nicht zugrundegehen“" (ebd. Vers 6-9).
Das Jonabuch ist ein Buch über die schicksalsbestimmende Macht der Teschuwa.
 
Ne'ila: Die Tore schließen sich
Ne'ila heißt Schließung. Die jüdische Tradition interpretiert diesen Namen des letzten Gebetes am Jom Kippur auf zweierlei Art. Als Hinweis auf die Schließung der Himmelstore, die sich den Gebeten an diesem Tag ganz besonders öffneten, sowie als die ganz konkrete Schließung der Tempeltore, deren "Öffnungszeiten" auf den Tag beschränkt waren (Jerusalemer Talmud, Ta'anit 4).
Auch der Jom Kippur schließt jetzt, mit dem Ne'ila Gebet. Das Hauptmotiv dieses Gebets ist das Siegel. Wenn auch Gottes Urteil über den Menschen bereits an Rosch Haschana gesprochen wurde, wurde ihm bis Jom Kippur noch eine Bewährungsfrist gewährt, jetzt erst, wenn sich die Tore schließen, wird es endgültig besiegelt.
"Öffne uns die Himmelspforten jetzt, da sich die Tore schließen", heißt es an zentraler Stelle im Ne'ila Gebet, und der Betende unternimmt nach einem ganzen Tag, der bereits in Fasten und Gebet begangen wurde, noch einmal eine letzte Anstrengung, sich emporzuheben. Das Ne'ila Gebet schließt mit dem Blasen des *Schofar, dessen Ton uns noch von *Rosch haSchana her gegenwärtig ist.
In dem nun direkt folgenden Abendgebet, das bereits dem nächsten Tag angehört (da der "jüdische" Tag am Abend anfängt) und somit ein ganz reguläres Werktagsgebet ist, löst sich langsam die seelische Anspannung.
Das nächste, gleich nach vier Tagen schon anstehende Fest, *Sukkot (Laubhüttenfest), wird von der Tora ausdrücklich als ein Freudenfest hervorgehoben (Dt. 16,14-15). Die durch den feierlichen Ernst der Hohen Feiertage im Menschen geweckten Einsichten und Entschlüsse sollen sich nun in reiner Freude manifestieren. Daher wird empfohlen, gleich am Ausgang des Jom Kippur und somit gewissermaßen übergangslos mit dem Bau der *Sukka, der Laubhütte, zu beginnen (Rema zum Schulchan Aruch, Orach Chajim 624,5).
Fäkultat für Jüdische Studien הפקולטה למדעי היהדות Bar Ilan Universität, Ramat Gan, Israel אוניברסיטת בר אילן